EIN OPERATIONSSAAL GILT ALS INBEGRIFF VON SAUBERKEIT UND KONTROLLE. DOCH HINTER DIESER STERILEN FASSADE VERBIRGT SICH EIN ÖKOLOGISCHES PROBLEM VON GEWALTIGEM AUSMASS, DAS BEI JEDEM EINGRIFF NEU ENTSTEHT: MÜLLBERGE AUS EINWEGTEXTILIEN. IM ZENTRUM STEHT EINE SCHEINBAR SIMPLE ENTSCHEIDUNG: SOLLEN KITTEL, HAUBEN UND ABDECKUNGEN NACH EINMALIGEM GEBRAUCH ENTSORGT ODER FÜR DEN NÄCHSTEN EINSATZ AUFBEREITET WERDEN? DIESE FRAGE HAT WEITREICHENDERE FOLGEN, ALS DIE MEISTEN AHNEN. AKTUELLE STUDIEN LIEFERN ÜBERRASCHENDE ERKENNTNISSE, DIE TRADIERTE ANNAHMEN ÜBER HYGIENE, KOSTEN UND ÖKOLOGIE GRUNDLEGEND IN FRAGE STELLEN.
1. Die schockierende Realität: Deutschlands Operationssäle sind zu 85 % „Einweg“
Eine der verblüffendsten Zahlen zuerst: Rund 85 % der deutschen Operationssäle sind mit Einweg-Textilien ausgestattet. Diese Statistik aus einer vergleichenden Ökobilanz der Firma Sitex bedeutet, dass die überwältigende Mehrheit der Kittel, Abdeckungen und Tücher, die bei Millionen von Operationen jährlich zum Einsatz kommen, nach einmaliger Nutzung entsorgt wird. Um diese abstrakte Zahl greifbar zu machen: Ein Krankenhaus mit 10.000 Eingriffen pro Jahr könnte durch eine Umstellung auf Mehrwegtextilien jährlich zwischen 20 und 30 Tonnen Sondermüll vermeiden. Dieser Fakt verdeutlicht das immense, ungenutzte Potenzial für mehr Nachhaltigkeit in einem hochspezialisierten Bereich, in dem eine tief verwurzelte Linearwirtschaft – produzieren, nutzen, wegwerfen – dominiert.
2. Der Klima-Faktor: Einweg-Sets verursachen mehr als dreimal so hohe CO2-Emissionen
Die Umweltauswirkungen dieser Einweg-Dominanz sind gravierend, insbesondere beim Klimawandel. Die bereits erwähnte Sitex-Studie quantifiziert den Unterschied präzise: Ein typisches OP-Set aus Mehrwegtextilien verursacht Emissionen in Höhe von 2,9 kg CO2-Äquivalenten. Ein vergleichbares Set aus Einwegmaterialien schlägt hingegen mit 10,5 kg CO2-Äquivalenten zu Buche.
Das bedeutet: Eine Umstellung auf Mehrwegsysteme könnte die CO2-Emissionen pro Operation um fast 72 % senken. Die Studie fasst das Einsparpotenzial in einem prägnanten Satz zusammen:
Durch Einsatz textiler OP-Mehrweg-Sets (Mäntel und Abdeckungen) CO2e auf bis zu 28% pro OP senken!
Der entscheidende Unterschied liegt im „Wann“ und „Wo“ der Umweltbelastung. Bei Einwegartikeln fällt die massive CO2-Last bei der Herstellung aus fossilen Rohstoffen und am Ende bei der thermischen Entsorgung an – ein kurzer, brutaler Lebenszyklus. Bei Mehrwegtextilien verteilt sich die Belastung auf die vielen Zyklen der ressourcenintensiven Aufbereitung, wobei die wiederholte Nutzung die höhere anfängliche Produktionslast bei weitem überwiegt.
3. Die unerwartete Ausnahme: In einer einzigen von 18 Kategorien ist Einweg besser
Eine fundierte Analyse vermeidet pauschale Urteile. Die Sitex-Ökobilanz hat insgesamt 18 verschiedene Umweltkategorien untersucht – vom Wasserverbrauch über die Versauerung von Böden bis hin zum Abfallaufkommen. Das Ergebnis: In 17 dieser 18 Kategorien schneiden Mehrwegtextilien deutlich besser ab.
Es gibt jedoch eine einzige Kategorie, in der Einwegartikel einen Vorteil haben: die „Ozonschichtzerstörung“. Der Grund dafür liegt tief im Herstellungsprozess. Mehrwegtextilien bestehen häufig aus Polyesterfasern, und bei der Produktion eines Vorprodukts für Polyester entweicht in geringen Mengen Brommethan, eine chemische Verbindung, die zum Abbau der Ozonschicht beiträgt. Diese Transparenz ist kein Makel der Mehrweg-Option, sondern ein Stärkebeweis für die Studie selbst. Sie zeigt, dass die ökologische Überlegenheit von Mehrwegsystemen nicht auf einer pauschalen Annahme beruht, sondern auf einer differenzierten Analyse, die selbst unbequeme Details nicht ausspart.
4. Mehr als nur Ökologie: Wie der richtige Kittel die Konzentration im OP beeinflusst
Die Debatte geht über reine Umweltkennzahlen hinaus und berührt einen zentralen Aspekt der Patientensicherheit: die Leistungsfähigkeit des OP-Personals. Einwegmaterialien führen laut Studien häufiger zum Phänomen des „Hitzestress“. Ihre textile Struktur ist weniger atmungsaktiv, was bei langen und anspruchsvollen Eingriffen zu Unbehagen und Ermüdung führen kann.
Mehrwegtextilien bieten hier einen entscheidenden Vorteil. Der erhöhte Tragekomfort hilft, ein vorzeitiges Nachlassen der Konzentration zu verhindern und somit potenziell das Fehlerpotenzial zu verringern. Hinzu kommen handfeste Materialvorteile: Moderne Mehrweggewebe sind extrem reiß-, berst- und scheuerfest und setzen kaum Partikel frei, was das Kontaminationsrisiko senkt. Zusätzlich wird durch das Einweben leitfähiger Karbonfasern eine permanente Antistatik erreicht – ein wichtiges Sicherheitsmerkmal im Umgang mit sensiblen elektronischen Geräten im modernen OP. Eine in den Sana-Kliniken zitierte Studie von McQuerry et al. belegt eindrucksvoll, dass Mehrwegkittel selbst nach 75 Waschzyklen noch stabiler sind als neue Einwegkittel.
5. Die wahre Hürde ist nicht die Technik, sondern der Preis und die Denkweise
Obwohl die ökologischen und qualitativen Vorteile auf der Hand liegen, vollzieht sich der Wandel nur schleppend. Der Grund liegt in einer simplen, aber mächtigen Kennzahl: dem Preis. Wie Analysen der Sana Kliniken zeigen, sind Mehrweg-Kittel zwar ökologisch klar überlegen, im reinen Kostenvergleich unterliegen sie aber oft noch den Einwegprodukten, die von massiven Skaleneffekten der globalen Produktion profitieren.
Hier setzt das Konzept des „Value-Based Procurement“ an – eine Beschaffungsphilosophie, die nicht nur den Preis, sondern den multidimensionalen Wert eines Produkts bewertet. Dazu zählen neben den Kosten auch Qualität, Nutzerzufriedenheit, Patientensicherheit und Nachhaltigkeit. Als positiver Ausblick dient das Pilotprojekt der Sana Kliniken: Sie entwickeln ein evidenzbasiertes Entscheidungsmodell, das Einkäufern eine fundierte Wahl zwischen Einweg und Mehrweg ermöglichen soll – basierend auf einer ganzheitlichen Bewertung ökonomischer, ökologischer und sozialer Kriterien.
Schlussfolgerung
Die Wahl der OP-Textilien ist ein oft übersehener, aber entscheidender Hebel für mehr Nachhaltigkeit und Qualität im Gesundheitswesen. Die Debatte ist komplexer als eine simple Gegenüberstellung von „gut“ und „schlecht“, doch die wissenschaftlichen Daten weisen eine klare Richtung: In den meisten und wichtigsten Kategorien sind wiederverwendbare Systeme die ökologisch und oft auch qualitativ bessere Lösung. Der Wandel erfordert ein Umdenken in den Beschaffungsabteilungen der Kliniken – weg von der reinen Kostenfokussierung hin zu einer wertbasierten Gesamtbetrachtung.
Wenn bereits die Umstellung eines so fundamentalen Produkts wie des OP-Kittels einen derart messbaren Wandel bewirken kann, welche weiteren Potenziale für eine intelligentere, sicherere und nachhaltigere Gesundheitsversorgung schlummern noch unentdeckt in den Routinen und Beschaffungsprozessen unserer Kliniken?